Ansprache von Pfarrer Mike Netzler am 20. Dezember 2016

Pfarrer Mike Netzler hat uns erlaubt seine Ansprache zu bloggen – Herzlichen Dank dafür!

Wir alle, die wir hier zum Abschied von Johannes versammelt sind, haben Schmerz und Trauer in unserem Herzen. Anstatt so von ihm Abschied zu nehmen, möchten wir ihn viel lieber lebendig mitten unter uns haben, möchten ihn einhaken, rechts und links, und zu ihm sagen: „Komm, lass uns von hier weggehen. Auf dem Friedhof hast du mit deinen gerade mal 24 Jahren nichts zu suchen, hier gehörst du nicht hin! Du gehörst zu uns ins Leben.”Doch im Angesicht seines Sarges holt uns die Wirklichkeit schmerzvoll ein. Johannes ist gegangen aus seiner und unserer Situation. Und er hinterlässt uns Fragen, um deren Beantwortung wir wohl noch lange werden ringen müssen. Wir können es nicht fassen, dass er so von uns gegangen ist.

Aber es war sein bewusst gewählter Weg. Die Zeilen, die er hinterlassen hat, klingen bei allem Rätselhaften, das er an sich selbst entdeckt, entschlossen. Es macht uns schwindelig und lässt uns erschaudern, wenn wir uns vorzustellen versuchen, dass es in ihm so dunkel geworden war, dass er für sich keinen anderen Ausweg mehr sah als den Tod, dass ihm etwas – nicht nur in den letzten Stunden seines Lebens – allen Mut genommen hat. Er, dem es wichtig war, alles mehr als hundertprozentig zu machen, ganz vorne dabei zu sein, der ja auch neben dem Ehrgeiz auch die notwendigen Fähigkeiten und Voraussetzungen besaß, dessen Leben in klaren Bahnen verlief, hat an der Erfahrung, ganz existentiell an seine Grenzen zu stoßen und dass die klaren Bahnen auf einmal gar nicht mehr klar waren, kapituliert. Ängste und Depressionen können uns wie ein Strudel in die Tiefe reißen. Aber all dies bleiben nur Hinweise. Erklärt ist damit im letzten nichts. Ob wir es je ganz verstehen können? Die Frage nach Schuld und Versagen drängt sich reflexartig auf. Aber sie führt in eine Sackgasse, weil es hier nicht darum gehen kann. Depression ist eine Krankheit, die hat er sich nicht ausgesucht. Depressionen sind fast immer Ausdruck einer Sehnsucht nach Leben, die irgendwo stecken geblieben ist. Die Frage mag in uns bohren, ob wir etwas versäumt haben. Das macht uns ohnmächtig, hilflos, unsicher, vielleicht auch wütend, und es schmerzt. Und das dürfen wir hier aussprechen, dass wir voller Trauer sind, weil Johannes von uns gegangen ist, und dass wir ihn noch gerne unter uns hätten. Aber wir dürfen hier bei seinem Abschied auch sagen, dass sein Weggang uns wehtut, und dass wir nicht verstehen, auch wenn es von ihm wohl so nicht beabsichtigt war, Ihnen, seinen Angehörigen, mit seinem Freitod weh zu tun. Er schreibt dies ausdrücklich.

In dieser Zeit, in der wir versuchen, zu ergründen, was geschehen ist, ihn zu verstehen, erinnern wir uns an ihn als Menschen. Und wir entdecken, dass der Mensch Johannes ein großer menschlicher Reichtum war; viel mehr ist, als das, was die Ängste und Depressionen, aus ihm gemacht haben, so sehr diese ihn auch vereinnahmt haben. Ich danke Ihnen noch einmal sehr herzlich für den Einblick, den Sie uns geschenkt haben, wie Sie Ihren Sohn erlebt haben. Es ging mir sehr unter die Haut, es hier von Ihnen selbst zu hören und der so liebevollen Weise. Und ich denke, jede und jeder hier ergänzt ihn mit den eigenen gemeinsamen Erlebnissen und Erinnerungen.

So tragen wir ihn zu Grabe ohne mit ihm an ein Ende gekommen zu sein. Er hat so vieles offen gelassen und so viele Fragen in uns aufgerissen. Es ist hier nicht die Stunde, nach Antworten zu suchen, die wir bräuchten. Aber es quält uns, weil wir ihn geliebt und geschätzt haben und er zu uns gehört. Er ist nun erlöst von all dem, was ihm das Leben untragbar gemacht hat.

„Es wird Stille sein und Leere. Es wird Trauer sein und Schmerz. Es wird dankbare Erinnerung sein, die wie ein heller Stern die Nacht erleuchtet bis in den hellen Morgen “ – so las ich einmal auf einer Traueranzeige eines Menschen, der den gleichen Weg gewählt hat wie Johannes. Er selbst ist dieser Stern.

Natürlich stellt sich hier die Frage nach Gott. Warum musste das geschehen und wo war er, dass es so weit kommen musste. Es ist die gleiche Frage der Marta an Jesus aus dem Evangelium gerade, das Sie für heute morgen ausgesucht haben. Wärest du hier gewesen? Es endete mit der Frage Jesu, ob Marta glauben würde, dass er die Auferstehung und das Leben sei. Normalerweise wird, wenn dieses Evangelium hier vorgetragen wird, am Ende auch Martas Antwort gelesen, ein freimütiges „Ja, Herr, ich glaube!“ Dass Sie bei Ihrer Auswahl für heute morgen es bei der offenen Frage Jesu schließen lassen, müssen wir aushalten. Dass der Glaube an Gott ins Schwanken gerät, wenn man erlebt, dass ein junger Mensch allen Lebensmut verliert, müssen wir aushalten. Auf die Frage des Warum hat niemand eine Antwort, ich auch nicht. Aber Sie haben sich zugleich die Geschichte von den Spuren im Sand gewünscht. In dieser kleinen Geschichte ist ja so, dass dort am Strand nicht nur zwei Menschen miteinander spazieren gehen und zurück schauen. Nein, ein Mensch hat die Chance, diesen Spaziergang mit Gott tun zu können. So eine Chance wünschen sich viele von uns sicher auch. Unmittelbar mit Gott von Angesicht zu Angesicht sprechen können in solch entspannter Atmosphäre und mit ihm all die vielen offenen Fragen des Lebens zu erörtern und von ihm direkt Antworten darauf zu bekommen. Vor allem eben auch unsere bohrende, unbeantwortete Warum-Frage. Z.B.: Warum sind im Leben manchmal auch so viel Kampf und Leiden? Warum ist manchmal das Gefühl in uns, allein zu sein, gar verlassen? Warum müssen wir überhaupt sterben und uns trennen von allen, die uns am Herzen liegen? Die kleine Geschichte von den Spuren im Sand deutet auf diese fundamentalen Fragen eine atemberaubende Antwort an, an die wir uns nur zu gerne anhängen wollen. Der Mensch entdeckt, dass es Zeiten gab, die schwer, ja sehr schwer waren. Und dazu entdeckt er immer nur ein Paar Spuren im Sand. Seine Vermutung: Gott hat ihn allein gelassen. Das sind die: Situationen, in denen wir uns fragen: Wo bist du Gott? Und seine Anwesenheit bleibt uns irgendwie verborgen. Wärest du hier gewesen… Die Antwort Gottes in der kleinen Geschichte lässt, wenn man sie an sich heran lässt, einem einen wohligen Schauer über den Rücken tragen: Da wo das Leben dir schwer war, zu schwer, und du nur ein Paar Spuren siehst, da hab ich dich getragen. In unserem christlichen Glauben dürfen wir sagen: Weder Johannes, noch wir sind je allein gelassen von Gott, weder im Leben noch im Sterben. Er trägt uns, wenn wir selber uns kaum noch tragen können. Freilich: oft erkennen wir das nur im Nachhinein. Und das zu erkennen und anzunehmen ist in der Stunde der Dunkelheit mitunter schwer, kann sogar menschenunmöglich werden. Wir Christen schauen in der Stunde des Abschieds aber nicht nur auf das, was wir verloren haben im Tod. Wir schauen auch und in besonderer Weise auf unseren Herrn Jesus Christus. Wir erinnern uns an sein Leben, aber auch an sein Sterben am Kreuz und sein Auferstehen von den Toten. Wir feiern, dass der Tod in ihm überwunden worden ist, dass die Liebe stärker ist als der Tod.

Und darum lassen wir Johannes nicht leer gehen. Wir nehmen unsere ganze Liebe und wenden uns mit ihr Johannes zu. Unser Herrgott soll diese Liebe nehmen und sie für ihn wandeln zum Segen, wenn er auf Gott, seinem Schöpfer zugeht. Und wenn er in dem Abschied, den er gewählt hat, sich nur schwer Gott nähern kann, dann soll unsere Liebe ihn zu ihm zu tragen. Denn wir wollen dass er bei ihm ankommt und dass sein Leben nicht vergeblich war. Der barmherzige Gott möge ihm die Perspektiven, die Erfüllung, die Leichtigkeit des Herzens schenken, die wir alle, das Leben hier und diese Welt ihm nicht mehr geben konnten. An dem Kapitell einer der Säulen der mittelalterlichen Klosterkirche von Vezelay in Burgund sind uralte Bilder vom Tod des Jüngers dargestellt, der Jesus ausgeliefert hat, und der dann später verzweifelt den Tod wählte. Das erste Bild zeigt die Situation seines Verzweiflungstodes. Daneben ist auf einem zweiten Bild Jesus als der gute Hirt dargestellt, der sich den toten Leib seines Jüngers um die Schultern gelegt hat wie das eines verlorengegangenen Schafes, um auch diesen Jünger heim zu tragen ins ewige Leben. Ich möchte mich an diese kleine Parabel von den Spuren im Sand und ihrer Erkenntnis in dieser Stunde dran hängen: Als es dir zu schwer war, da wo du nur ein paar Spuren siehst, da habe ich getragen. Und ich glaube an das Wort aus der Heiligen Schrift: „Bei euch sind sogar die Haare auf dem Kopf alle gezählt ” Selbst in der Stunde, in der sich der Mensch vollkommen verlassen wähnt, kennt und sucht ihn der Herr und findet ihn, weil er keinen missen will. „Alle, die du mir gegeben: hast, werden zu mir kommen”, spricht er zu Johannes und uns nur wenige Verse später, als das Evangelium gerade endete.

Ich stehe hier als Ihr Pastor, der im letzten auch nicht ermessen kann, was in einem Menschen vor sich geht, wenn sie von uns gehen und auf diese Weise gehen wie Ihr Sohn, Bruder, Ihr Enkel und Freund. Aber ich stehe hier als Ihr Pastor, der glaubt, dass Gott viel mehr sieht als wir Menschen, dass Gott ein Wissen hat um das Innerste eines Menschen, über das wir nicht verfügen, und der glaubt, dass Gott uns alle, auch, ja gerade den Verzweifelten unter uns, unfassbar liebt. Gemeinsam wollen wir Johannes voller Liebe den unendlich gütigen Händen Gottes anvertrauen. Es ist mir wichtig, dass wir in dieser Stunde allen Glauben in unseren Herzen sammeln, über den wir verfügen, und gemeinsam für ihn beten.

Und denken wir dabei an den lächelnden Johannes, so wie er es sich gewünscht hat. Seine Liebe gehört Ihnen, und unsere Liebe gehört ihm.

 

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